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„Haushalts-Handschmeichler
Wer edle Gläser von Hand spült, braucht vor allem eins: Geschirrtücher,
die keine Fusseln hinterlassen. Also keine aus Baumwolle, sondern aus Leinen oder Halbleinen. Was früher die Norm war, ist heute die Ausnahme, aber es wird ja überwiegend mit der Maschine gespült und gar nicht mehr abgetrocknet. Nur weniges ist nicht spülmaschinengeeignet wie altes Porzellan mit Golddekor oder feine Weingläser, dafür braucht man doch Geschirrtücher.
Handelsübliche Gläser- und Küchentücher sind aus Baumwolle, solche aus Leinen werden vor allem von Profis benutzt, daher sind sie fast nur im Fachhandel erhältlich. Wegen der geringen Nachfrage und des hohen Preises gibt es in Deutschland nur noch wenige Leinenwebereien, und Kracht in Lemgo ist eine der ältesten und bekanntesten.
Den Grundstein für "Leinenkracht" legte Heinrich Christoph Kracht, der ab 1810 in der westfälischen Hansestadt Lemgo ein Handelsunternehmen für Leinen betrieb. Sein Enkel Heinrich Christoph Kracht gründete 1886 die Mechanische Leinenweberei, die sich bis heute in Familienbesitz befindet. Daß zwischen der ersten und der zweiten Firmengründung ein Dreivierteljahrhundert verging, ist erstaunlich und hat seinen Grund in der komplexen Entwicklung der globalen Textilindustrie.
Der Flachs, wie Leinen auch genannt wird, ist die älteste europäische Faserpflanze und war bis zum Massenimport der Baumwolle die meistgenutzte Textilfaser. Ab dem 19. Jahrhundert wurde der einheimische Stoff aus drei Gründen verdrängt. Baumwolle wurde billig, weil sie auf riesigen Plantagen mit Sklavenarbeit angebaut und durch große Handelsflotten verschifft wurde. Die Baumwollbollen konnten einfach maschinell zu Garn versponnen werden, das sich für industrielle Webereien eignete.
Flachs hingegen wurde in Europa von Kleinbauern angebaut, und die Verarbeitung zu Fasern ist viel aufwendiger. Selbst als dafür um 1850 mechanische Verfahren entwickelt wurden, blieb das maschinelle Verweben der brüchigen und staubenden Garne eine Herausforderung. Der dritte Grund ist der Mangel an einheimischem Flachs, denn mit der Verstädterung stiegen die Bauern auf das lukrativere Gemüse und Viehfutter um. Das bedingte die Gründung des Krachtschen Leinen-Handels.
Jahrhundertelang war das Ravensberger Land in Ostwestfalen mit seinen Städten Bielefeld, Herford und Lemgo ein Leinen-Zentrum, der Flachs-Anbau verschwand, die Expertise blieb, und die Webwaren dieser Fabriken erlangten als "Bielefelder Leinen" Weltruhm. Heute bestehen dort nur noch wenige Firmen, Kracht ist eine der renommiertesten.
Eigentlich war Leinen mehrere Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden. Leinen ist zwar ein wunderbarer Stoff - reißfest, unverwüstlich, schmutzabweisend, aber schwer zu bügeln, und Bügeln war seit der Wirtschaftswunderzeit out. Erst mit der Öko-Welle und dem Klimawandel wurde Leinen in der Modewelt wieder populär. China ist nicht nur die größte Textilnation, es hat auch den weltweit größten Flachsanbau. Das Gros der chinesischen Leinenstoffe ist allerdings meilenweit von einem Kracht-Produkt entfernt: das eine ist Fast Fashion, das andere hält Generationen.
Zum Geburtstag beschenkte ein Freund, der meine Leidenschaft für Kochen und Wein kennt, mich mit zwei Halbleinen-Geschirrtüchern von Kracht. Es ist das Standardmodell mit feinem Streifenkaro, das seit Beginn unverändert hergestellt wird. Freilich ist die Farbpalette erweitert worden, früher waren Rot und Blau üblich, insbesondere Blau, denn diese Farbe wirkt auf Fliegen abstoßend.
Interessant war der Vergleich des Neuzugangs mit einem Halbleinentuch aus der Vorkriegszeit, das als Aussteuer gehütet und erst von mir in Dienst genommen wurde. Material, Verarbeitung und Gebrauchsverhalten des Krachtschen Tuchs waren mit dem Vintage-Tuch gleichwertig. Das zeugt von der unverändert hohen Qualität. Bei dem Geschirrtuch mit dem hübschen Namen Trockenperle handelt sich um den über hundert Jahre alten Halbleinen-Klassiker, in dessen besonderer Köper-Bindung die Flachsfaser die Hauptrolle spielt. Halbleinen ist nämlich nicht gleich Halbleinen, die billigen auf dem Markt bestehen zu 60% aus Baumwolle, und Leinen sorgt nur hintergründig als Kettfaden für Festigkeit.
Neben Küchentüchern in traditionellem und modernem Design bietet Kracht ganze Serien für die Küche, außerdem Betttücher. Mich hat die Qualität der Geschirrtücher überzeugt, und ich würde wieder welche kaufen. Allerdings wird das nicht passieren, denn sie halten bestimmt hundert Jahre!
...”weniger